Aufgrund meiner ausgiebigen Reisetätigkeit verbringe ich Momente am Flughafen oftmals mit dem Nachdenken über mein Hobby. Dabei versuche ich das für und wider von Designentscheidungen für ein Rollenspielsystem abzuwägen. Nachdem ich jetzt ein paar Blog Beiträge über Attribute (Klugheit, Charisma, usw.) gelesen habe, stelle ich mir die Frage ob Vereinfachung im Rollenspiel wirklich notwendig ist. Und ob es wirklich Attribute gibt die keiner braucht. Ein langjähriger Rollenspielkollege hat schon lange die Meinung vertreten der Wert Aussehen in THORG sei unnötig, was andere Mitspieler naturgemäß auch anders sahen. Ich persönlich habe immer die Meinung vertreten das dieses Attribut zum Flair beiträgt und den Spielfluß nicht behindert.
Was mir einfach nicht einleuchten will ist die Anforderung dass ein Regelwerk (auch die Charaktererschaffung) einfach sein soll. Zum einen mache ich die Charaktererschaffung im Normalfall nur einmal im Charakterleben, und daher kann sie auch länger dauern. zum anderen halte ich die Möglichkeit meinen Charakter auszubauen und zu stärken für eine Motivation.
Was mich in PC Spielen oftmals nervt ist das Gefühl nicht wirklich stärker zu werden. Die Monster wachsen normalerweise einfach mit, und trotz meiner unzähligen magischen Gegenstände, Stufenanstiege, Fähigkeiten, etc. kommt es zu keinem Moment zu dem Gefühl das mein Charakter wirklich eine Entwicklung durchgemacht hat. Betrachten wir MMOG (ich glaube nicht das es MMORPG gibt da kein RP stattfindet) ist die Freude am Optimieren durchaus verbreitet. Wenn ich einen Rollenspielcharakter erstelle möchte ich nach einigen Abenteuersitzungen das Gefühl haben das er eine Entwicklung durchgemacht hat. Die geht meines Erachtens nach am besten mit
a) Attributen
b) speziellen Fähigkeiten
c) ansteigende Möglichkeit Schaden auszuhalten
d) vielfältigen Methoden den Charakter auszubauen
Das dabei die Komplexität des Regelsystems ansteigt (was sie nicht muss) nehme ich gerne in Kauf. Ich weiß das zunehmend mehr Menschen im Alltag nach einer Vereinfachung streben und die Medien Komplexität soweit reduzieren das die Wirklichkeit gar nicht mehr zu erkennen ist, das will ich aber nicht. Eine Vereinfachung nur um der Vereinfachung willen bringt mir keinen zusätzlichen Spielspaß. Im Zeitalter von Tablets, Laptobs und PDFs sind Regelwerke mit mehr als einer Seite ohnehin keine Herausforderung mehr. Da kann man die Suchenfunktion bemühen und ruck zuck hat man die Stelle im Regelbuch gefunden. Außerdem kann man den Weg von Warhammer gehen (den ich sehr gut finde) und die Regelmechanismen auf Karten drucken (den Gedanken hatte ich für THORG seit ich Magic kannte, habe ihn aber leider nie konsequent umgesetzt).
Die Komplexität erlaubt mir an vielen verschiedenen Stellen meinen Charakter auszubauen und zu verfeinern. Wenn ich dafür die Grundrechenarten bemühen muss stellt das keine intellektuelle Herausforderung für mich dar. Zahlenkauen und Charakteroptimierung können zum Spaß beitragen, insbesondere wenn der hoch optimierte Charakter an seiner Paradedisziplin scheitert.
Attribute wie Ausstrahlung, Aussehen oder Charisma sind nicht zwingend notwendig aber sie können einen Charakter und ein System mit Flair ausstatten.
Robert Graves sagte: „Every English poet should master the rules of grammar before he attempts to bend or break them.“ Anders ausgedrückt: wenn ich komplexe Situationen abstrahieren möchte und die Freiheitsgrade zu sehr reduziere, dann bilde ich die Wirklichkeit nicht mehr ab. Je mehr ich im Regelsystem vereinfache um so mehr überlasse ich die Entscheidungen der Willkür oder dem Spielleiter.
Mancher könnte jetzt sagen: „Mathematik hat in einem Rollenspiel nichts zu suchen.“ Diese Entscheidung sollte man der Gruppe bzw. den einzelnen Spielern überlassen. Komplexität in einem Rollenspiel ist kein Kriterium für ein gutes oder schlechtes RSP, sondern eine Designentscheidung.